Montag, 5. März 2012

Liebe Oma,

ich habe hin und her überlegt, ob ich Dich anrufen soll, besonders jetzt, zu Deinem Geburtstag.
So ein Geburtstag übt Druck aus, sich zu melden, weil man meist als der Böse dasteht, wenn man es nicht tut. Dennoch habe ich mich dagegen entschieden.
Ich habe mich ja nicht grundlos bisher nicht gemeldet, sondern weil mir der Gedanke an ein Gespräch mit Dir Unbehagen bereitet.
Da ich der Meinung bin, dass es nicht gut ist, sich zu etwas zu zwingen, bei dem man sich derart unwohl fühlt, lasse ich es also. Außerdem wäre es nicht aufrichtig, wenn ich mich so lange nicht melde und dann nur gezwungenermaßen zum Gratulieren anrufe.

Nun also lieber aufrichtig.
Ich schreibe, weil ich nicht reden, aber durchaus kommunizieren will. Das muss man ja nicht zwangsläufig via Telefon tun.

Ich habe Opa und Dich sehr lieb. Ich weiß zu schätzen, was ihr, schon mein ganzes Leben lang, für mich getan habt, auch wenn das nicht so bei euch ankommen mag. Und genau das macht es mir derzeit so schwer. Ihr wart immer für mich da und werdet es wohl immer sein. Ihr habt mich quasi großgezogen, wart mir bessere Eltern als es meine eigentlichen Eltern waren und wohl je sein können. Ich bin aufrichtig dankbar dafür, auch wenn ihr sagt, dass es keine Dankbarkeit ist, was ihr erwartet.
Aber ich fühle mich auch zu Dankbarkeit verpflichtet.
Wenn man sich zu einem Gefühl wie diesem verpflichtet fühlt, fällt es schwer, Vorwürfe zu machen.
Deshalb ist es mir wichtig, ausdrücklich zu sagen, dass ich euch lieb habe und eure Unterstützung zu schätzen weiß.

Aber heute bin ich wütend. Und traurig.
Ich fühle mich unverstanden und teilweise ungeliebt.

Ich wollte an Weihnachten nach Hause kommen. Ich wollte bei euch sein, bei Freunden sein, bei Papa sein.
Ich wollte mich nicht entscheiden müssen zwischen euch. Doch genau dazu wurde ich gedrängt, ohne dass ich mich in meiner Entscheidung frei gefühlt hätte.
Ich wollte bei A.s Familie feiern. Es tut mir leid für euch, dass das mein Wunsch war, denn ich kann mir vorstellen, dass das kein schönes Gefühl ist, wenn die Enkelin, die mehr eigene Tochter als Enkelin ist, an Weihnachten lieber bei einer anderen Familie ist. Ich kann nachvollziehen, dass euch das traurig und vielleicht wütend macht.
Was mich traurig und wütend macht, ist, dass Du auf mich nicht den Eindruck gemacht hast, weder mich noch dich selbst ein einziges Mal zu fragen, wieso das so ist.

Ich glaube nicht an Gott. Weihnachten hat in diesem Sinne keine Bedeutung für mich.
Weihnachten war für mich einmal ein Familienfest. Wir haben uns alle bei euch getroffen, gegessen, Geschenke ausgepackt, gefeiert. Es war immer sehr harmonisch, gemütlich, stressfrei.
Dann ist die Familie auseinandergebrochen.
Seitdem habe ich an Weihnachten nichts mehr zu feiern.

Die Vorstellung von diesem Weihnachten bei euch war die Vorstellung von einem Abend, an dem ein kleiner Bruchteil einer einst großen, glücklichen Familie zusammensitzen und angestrengt versuchen würde, ein Gespräch aufrechtzuerhalten. Für mich hatte die Aussicht auf diesen Abend nicht viel Verlockendes. Du bist wegen des Kochens kaum außerhalb der Küche anzutreffen und ohnehin schon leicht gestresst, Opa redet schon seit Jahren kaum noch, meinen eigenen Patenonkel und seine Frau kenne ich kaum, und Kinder kann ich nicht ausstehen.
Der Abend hielt für mich nicht mehr als Stress bereit. Stress nicht im Sinne von 'Ich muss zeitlich so viel erledigen und alles muss perfekt sein', sondern im Sinne von 'Ich muss etwas tun, worauf ich keine Lust habe'.

Bei A. wollte ich feiern, weil die Familie mich zum Einen eingeladen hatten und ich auch ihnen gegenüber zu Dank verpflichtet bin und mich daher nicht undankbar zeigen wollte.
Vor allem aber, weil es dort viel entspannter zugeht. Keiner zieht sich besonders schick an, es kommen nicht extra Verwandte angereist, keiner ist besonders darum bemüht, für Harmonie zu sorgen. Es ist wie immer, nur mit üppigerem Essen und ein paar Geschenken.
Ich fühle mich wohl bei A.s Familie. Sie ist noch genau so, wie ich sie immer kannte. Ich fühle mich dort willkommen, auf eine sehr herzliche und aufrichtige Art. Ich kann dort alles erzählen, und man macht mir keine Vorwürfe, sondern kümmert sich zuerst darum, mich wieder aufzurichten. Erst danach kritisiert man mich, wenn es notwendig ist, auf eine Weise, die dazu führt, dass ich darüber nachdenke, was ich besser machen kann, und nicht auf eine Art, die mich zu Trotzreaktionen verleitet. Und das Allerschönste: Es herrscht eine angenehme Ruhe in R.s' Haus. Niemals habe ich dort jemanden laut werden hören. Niemand keift den anderen an, nicht einmal Diskussionen erreichen eine unangenehme Lautstärke.
Es ist dort noch so harmonisch und entspannt, wie es bei uns einmal war.

Dass ich schon am Mittag des Heilig Abends zu A. geflüchtet bin und dich mit den ganzen Vorbereitungen alleine gelassen habe, tut mir leid. Das war egoistisch von mir.
Dass ich die gesamte Zeit über wortkarg und schlecht gelaunt war, hat noch andere Gründe als die oben aufgeführten, was ich jetzt aber nicht ausführen will.
Dass Du mir meinen 'Lebenswandel' vorwirfst und sagst, dass ich 'so' jedenfalls nicht schaffen werde, was ich mir vorgenommen habe, finde ich, in der Form, wie Du es getan hast, gelinde gesagt frech. In erster Linie ist mein Leben, und wie ich es führe, meine Sache. Ich halte mich durchaus für zugänglich, was normale Gespräche angeht, auch über Sorgen und Ängste, was mein Leben angeht. Wirft man mir es allerdings in der Form und in dem Ton vor, wie Du das gemacht hast, führt es zu nichts anderem als partiellem Ausschluss aus meinem Leben. Wenn Du also so an meine Vernunft appellieren willst, dass es bei mir ankommt und eventuell etwas verändert, musst Du dir eine andere Art suchen, das zu tun, als mir mit so viel angestauter Wut im Bauch Vorwürfe zu machen. Auch der Versuch 'So wie du das derzeit machst, wirst du eh nur alles gegen die Wand fahren; denk mal drüber nach!' hat auf mich keineswegs die beabsichtigte Wirkung, sondern bewirkt allenfalls eine Trotzreaktion. Im Grunde führt es nur dazu, dass ich mich noch weiter von Dir entferne.

Ich saß schon einige Male an einem Brief wie diesem, allerdings musste ich jedes Mal feststellen, dass es mir die Mühe sozusagen nicht wert war. Ich habe es lieber so im Raum stehen lassen, als mich noch ein weiteres Mal mit Dir auseinanderzusetzen. Das ist nämlich anstrengend und macht mir schlechte Laune. Nun habe ich es also doch getan. Nicht, um alles wieder in Ordnung zu bringen, sondern um euch wissen zu lassen, dass ich euch sehr lieb habe, aber ich speziell Dein Verhalten nicht fair fand.
Ich möchte das Gefühl haben, dass meine Familie wenigstens darum bemüht ist, auch mich zu verstehen.
Dass ich nicht frei von Fehlern bin, ist mir schon klar.
Deshalb versuche ich, auch meinen Gegenpart und dessen Beweggründe zu verstehen, wenn irgendwas nicht läuft, wie es sollte. Bei Leuten, die nicht fast täglich mit mir zu tun haben, kommt das nicht an, aber ich reflektiere mein eigenes Verhalten doch recht ausgiebig. Ich erkenne Fehler, die ich mache. Ich kann sie auch zugeben.
Mir ist also durchaus bewusst, dass sich das Ganze aus eurer Perspektive etwas anders darstellt und ihr sicher auch einiges an mir zu kritisieren habt.
Dennoch hätte ich für meinen Teil mir gewünscht, dass ihr zumindest ein bisschen mehr Willen hättet erkennen lassen, euch mit mir und meinen Beweggründen zu beschäftigen, anstatt mir nur Vorhaltungen zu machen.

A.

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