Dienstag, 28. Juni 2011

Offenbarung

"Die Seele findet sich mit der Verzweiflung nicht ab, bevor sie sich nicht allen Illusionen hingegeben hat." 
(Victor Hugo)

Wenn man tot ist, hat man bestimmt keine Probleme mehr. Da kommt ja nichts. Kein Leben nach dem Tod oder so Unsinn. Einfach tot.
Keine Menschen, mit denen man sich arrangieren muss, keine komplizierten zwischenmenschlichen Beziehungen, keine Ängste, keine Erwartungen, kein Ringen mit sich selbst. Endlich ruhig schlafen. Für immer. Klingt doch nicht schlecht..
Wieso auch am Leben bleiben? Wieso an etwas hängen, das einen so oft unglücklich macht; das permanent hinter den Erwartungen zurückbleibt; das einen auf eine gewisse Weise maßlos überfordert?
Manchmal will man es tun. Aussteigen. Aus dem Leben.
Und sei es nur aus Trotz, um allen, von denen man sich Aufmerksamkeit und Zuneigung gewünscht aber nicht ausreichend erfahren hat, zu zeigen, was sie einem damit angetan haben, wie sehr sie einen verletzt haben, und die Genugtuung ihrer Selbstvorwürfe zu erleben, die sie sich vielleicht nur in den eigenen Phantasien machen. Anders kann man es ja nicht ausdrücken. Man kann es ihnen nur sagen und zeigen, aber sie werden - wenn überhaupt - genervt davon sein und dich als aufmerksamkeitsgeil abtun, was du in gewisser Weise ja auch bist, aber sie verstehen nicht, wieso du es bist. Sie verstehen nicht, dass du es selbst nicht verstehst; dass du selbst diese aufmerksamkeitsgeilen Bling-Bling-Bitches und Emokinder nicht abkannst, aber dennoch selbst die Aufmerksamkeit und Zuneigung brauchst. Sie verstehen nicht, dass du bereit bist, alles, alles, was du hast, zu geben, wenn sie dich nur gern haben und dir ihre Zuneigung zeigen. Aber kann man so jemanden überhaupt lieben?
Sie werfen dir vor, sie nicht zu verstehen, weil sie sich einbilden, ihnen ginge es ja so viel schlechter mit ihren Sorgen, doch sie sehen nicht, womit du haderst; wissen nicht, dass auch du des Lebens und seiner Mühen müde bist und nicht mehr willst. Auch wenn sie vorgeben dir zuzuhören und für dich da zu sein, kannst du dir jemals sicher sein, dass es sie wirklich um deinetwillen interessiert und - vielmehr noch - berührt, was mit dir ist? Fühlt jemand mit dir, weil er dich, der du bist, aufrichtig liebt?
Bin ich denn nicht liebenswert?
Du bildest dir ein, die anderen zu verstehen. Vielleicht tust du es nicht; dass diese Möglichkeit besteht, ist dir sehr wohl bewusst. Aber du bist davon überzeugt, es zu tun. Du hältst dich manchmal für sehr individuell, für sensibler, verständnisvoller, empathischer, empfindlicher, aufmerksamer als die allermeisten, und manchmal nur für einen von vielen Gleichen. Im Grunde kannst du dich selbst nicht leiden, du hast nur gelernt, dich mit dir selbst zu arrangieren. Wie solltest du dich auch selbst lieben können; es hat dir nie jemand vorgemacht, wie das geht. Du hast nie die bedingungslose Liebe einer Mutter erfahren. Du verfluchst deine Mutter für ihre Unfähigkeit, die dir nun dein Leben zur Hölle macht.
Es klingt so banal, so lächerlich und deshalb kannst du es keinem sagen, denn es würde keiner verstehen. Niemand weiß, wie das ist, wie sich das anfühlt. Du hattest keine furchtbare Kindheit im klassischen Sinne. Und doch hat sie dich zerstört. Innerlich ver-stört. Ein emotionales Wrack aus dir gemacht, das mit nichts klarkommt. Du klammerst dich an jeden Grashalm, an jedes neue Gesicht. Und es ist dir vollkommen bewusst, alles. Du weißt, wie es theoretisch richtig geht, aber du bist unfähig es umzusetzen. Du bist machtlos. Entmündigt. Der Kontrolle beraubt. Und du erlebst die Ohnmacht ganz bewusst. Paradox.
Du weißt in dem Augenblick, in dem du etwas Falsches tust, genau, dass du jetzt gerade etwas Falsches tust, und doch tust du es. Ist das mit einer Sucht vergleichbar?
Du schreibst, bitterlich weinend, dies auf mit der Absicht, es irgendwann irgendjemandem zu offenbaren. Und du weißt, dass du es nicht solltest. Du weißt genau, wer es wissen soll, und du weißt genau, dass er es nicht wissen sollte; du hast es so oft rational festgestellt. Und du bist sicher, dass es nichts ändern wird, dass er nicht derjenige ist oder sein wird, der dir das entgegenbringen kann oder will, das du suchst. Er wird es lesen, du wirst ihm leid tun, er wird feststellen, dass es dir nicht gut geht und er vielleicht unterschätzt hat, wie wenig du zurechtkommst. Und doch wird es danach sein, wie davor. Und es wird dir das Herz brechen, dass es ihn nicht mehr berührt, obwohl du weißt, dass er wohl der Allerletzte ist, von dem du erwarten darfst, dass er davon berührt ist.
Wieso hast du dieses furchtbare Bedürfnis, dich zu offenbaren, dich mitzuteilen? Das Facebook-Syndrom, sozusagen. Was erwartest du dir davon? Wieso glaubst du, dass es einen einfach nicht unberührt lassen kann, dass man dich einfach nicht nicht gern haben kann, wenn man weiß, wer du wirklich bist und wie es dir geht? Völlig irrational. Jeder ist sich selbst der Nächste. Und doch...
Du bist dir nicht selbst der Nächste. Du stellst dich hinten an, ordnest dich unter, verrätst deinen Stolz für deine Hoffnung bis zur völligen Selbstaufgabe. Glaubst du, das ist der Weg zum Glück?
Wieso bricht dein endloses Vertrauen nicht? So viele Enttäuschungen und doch rennst du immer und immer und immer wieder mit viel Schwung gegen die Wand, fasst schnell Vertrauen und bist schnell voll dabei, mit allem, was du zu geben hast. Doch es will niemand haben. Es muss doch irgendjemanden auf dieser Welt geben, dem es ähnlich geht, der genauso viel zu geben hat, der dich versteht, und der nur auf jemanden wie dich wartet..!
Oder nicht?
Du willst nicht mehr Vertrauen. Alle reden davon, wie kalt man augenscheinlich wird, wenn man nur oft genug enttäuscht wird. Du beneidest sie so sehr darum, kalt sein zu können. Du wurdest so oft so tief enttäuscht und doch glaubst du unerschütterlich an das Gute im Menschen, obwohl du dir so sehr wünschst, misstrauisch sein zu können.

Ich will das Leben nicht missen, keinesfalls. Ich habe seit meinem zehnten Lebensjahr nicht eine einzige Sekunde mehr daran gedacht, mir ernsthaft das Leben zu nehmen, dafür liebe ich es viel zu sehr.
Doch manchmal wünsche ich mir nichts mehr, als vom Leben erlöst zu werden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen